Soll man seiner Wut ungehemmt nachgeben oder sie lieber zurückhalten, um gesellschaftliche Konventionen nicht zu verletzen und seine Würde zu wahren? Wer Ersteres bevorzugt, sieht Wut oft als Katalysator, durch den man seine wahren Gedanken und Gefühle authentisch ausdrücken kann. Wer sich für Zweiteres entscheidet, sieht in Selbstbeherrschung und Höflichkeit die höchsten Güter des sozialen Zusammenlebens.
Der antike Philosoph Seneca bezeichnete das In-Rage-geraten, Aus-der-Haut-fahren oder Laut-und-rot-werden als krankhaft, da der Mensch dabei seine Selbstachtung verliert und die Vernunft von der Emotion verdrängt wird. Heute wiederum wird die Emotionalität des Individuums als etwas sehr Wichtiges erachtet, das Zugang zu seinem wahren Wesen gewährt. Denn ist ein Wutausbruch nicht auch die innere Explosion, die endlich den Schutzwall der Heuchelei zum Einsturz bringt? Sagt man nicht gerade dann "seine Wahrheit", wenn man seiner Wut nachgibt? Doch warum nimmt man Dinge, die man in Wut zu jemandem sagt, oft unter dem Vorwand zurück, dass man sie "nicht so gemeint" hat? Will man so nicht eher den damit verursachten Schmerz ungeschehen machen?
Wut ist auch eine politische Haltung: die der Unzufriedenen, der Benachteiligten, der Verlierer. "Wütende Studenten", "wütende Rentner", "Wutbürger" - Soll man der Wut der Anderen nachgeben? Macht Wut stärker? Kann Wut einen Menschen völlig beherrschen? Was ist der Unterschied zwischen Wut und Ärger? Und was ist "Wutpolitik"?